Liebe Gemeindeglieder, liebe Leserinnen und Leser,
beim Überqueren der Weser vor einigen Wochen fiel mein Blick auf eine Anzahl Schafe, die dort am Weserufer grasten. Wen ich nicht entdeckte, war ein Schäfer, der die Schafe hütete. Das Territorium der Schafe war abgesteckt durch einen leichten Zaun. Eine Wassertonne befand sich in der Umfriedung, Futter gab es auf der saftigen Wiese genug. Die Schafe wirkten zufrieden, keine Gefahr schien zu drohen. Wozu da ein Hirte, ein Schäfer. Nach heutigem Lohngefüge ließe er sich kaum bezahlen.
Der letzte Sonntag im Monat Mai heißt „Sonntag des guten Hirten“. Das Wort aus dem Johannesevangelium ist der Wochenspruch für die kommende Woche. Nur noch selten erleben wir dieses Bild aus dem ländlichen Leben, das Jesus aufgreift. Zwar birgt es eine gewisse Idylle, doch welcher Mensch lässt sich schon gern mit einem Schaf vergleichen oder möchte einen Aufpasser haben? Geht es nicht viel besser ohne?
Bilder haben Grenzen. Nicht in jeder Hinsicht können sie übertragen werden. Menschen sind keine Schafe und der „gute Hirte“ kein Züchter. Andere Züge des Bildes sind vergleichbarer: Menschen sind Gemeinschaftswesen. Sie schließen sich gern einer „Herde“ an. So gehören Christen zu einer Gemeinde, mit deren übrigen Mitgliedern sie verbunden sind. Auch Menschen brauchen Nahrung und frisches Wasser – nicht nur für Leib und Seele, auch für das, was sie glauben und worauf sie vertrauen dürfen.
Und sie brauchen Führung. Nicht, dass sie nicht allein gehen können. Doch sie können nicht weit genug sehen. Ein Hirte sieht weiter. Er kann schützen auch in Gefahren, die noch niemand ahnt. Da ist es gut für die Schafe, den Hirten in der Nähe zu wissen. Auf ihn ist Verlass.
Die Herde bleibt nicht auf der Stelle. Sie ist unterwegs, weil der Hirte mit ihr unterwegs ist. „Er führet mit zum frischen Wasser.“ Wer stehen bleibt, verliert den Anschluss.
Jesus vergleicht sich mit einem Schäfer. Der ist mehr als ein Aufpasser bzw. Fleisch- und Wollproduzent. Er entwickelt eine Beziehung zu den Tieren, kann sie voneinander entscheiden, gibt ihnen vielleicht sogar Namen. Die Tiere kennen ihn. Sie kennen seine Stimme. Einem Fremden würden sie davonlaufen.
Als Menschen sind wir mit ungeheurer Freiheit ausgestattet. Wir müssen uns keiner bestimmten Herde anschließen, nicht dem „guten Hirten“ folgen. Vermutlich werden wir uns anderen Herden anschließen und anderen Leitfiguren folgen. Der Mensch ist ein soziales Wesen und orientiert sich gern an Massen und an Personen, die beeindrucken können. In der Wahl, wem wir folgen, sind wir frei – so frei, dass wir uns auch verführen lassen können.
Berührend finde ich das Gleichnis vom verlorenen Schaf in der Bibel (Lk 15, 1-7). Jesus erzählt, wie ein Hirte neunundneunzig Schafe zurücklässt – um ein einziges Schaf, das ihm verloren ging, wiederzufinden. Was für ein Risiko geht er ein! Was geschieht mit den neunundneunzig in der Zwischenzeit? Die Frage bleibt offen. Wichtig ist Jesus zu zeigen, dass ihm jeder einzelne Mensch so wichtig ist, als es gäbe es nur ihn. Er ist gekommen, um Verlorene zu suchen.
Mit meiner Taufe und mit meinem Ja zur Zugehörigkeit zur Herde Jesu erlaube ich diesem Hirten, die Führung meines Lebens zu übernehmen. Das entbindet mich nicht der Notwendigkeit eigene Schritte zu gehen, Wege einzuschlagen, gegebenenfalls umzukehren. Es fordert aber auch, dass ich auf seine Stimme höre in den Worten, durch die er mich führen will. So darf ich darauf vertrauen, dass in dem, was ich nicht voraussehen kann, er meine Schritte lenkt.
Jesus, guter Hirte, danke, dass du mich siehst, dass du mich kennst und für mich sorgst. Ich weiß nicht, wie es in nächster Zeit weitergehen wird mit mir, meiner Gesundheit, meiner Arbeit, mit unserem Land, unserer Wirtschaft, unserem Leben als Kirchengemeinde.
Du siehst weiter. Das genügt mir. Dir gebe ich meine Ängste. Du bist meine Zukunft, mein Heil. Mein Leben ist verborgen in dir. Du schenkst mir nicht nur irdisches, sondern ewiges Leben. Danke für dieses Leben, diese Lebensqualität, für die vielen verbleibenden Möglichkeiten, die ich habe, mich zu bewegen, mitzuteilen, meine Zeit sinnvoll zu füllen. Alle Einschränkungen, die mir auferlegt sind, nehme ich in deinem Namen an.
Danke für die belebende Jahreszeit: Die Farben, Düfte und Klänge, die meine Sinne erreichen. Danke für das Telefonat, das ich führen durfte, für den Brief, den ich erhielt, für die Kurznachricht auf dem Smartphone, für die Musik aus der Bluetooth-Box die mich zu Mitsingen bringt.
Danke für das Wort deines Wortes, für den Sonntag, der den Alltag so wohltuend unterbricht. Richte meine Gedanken auf deine Zusagen und Verheißungen.
Dein Reich komme, dein Wille geschehe – auch in meinem Leben!
Amen.
Mit Spannung erwarten wir, wann und unter welchen Bedingungen wir uns wieder als Gemeinde versammeln dürfen. Klar ist, dass es nur mit großer Disziplin und Vorsicht geschehen kann.
Wer aus Krankheits- oder Altersgründen nicht mehr dazu in der Lage ist, melde sich gern, wenn er ein offenes Ohr braucht oder praktische Hilfe.
Verbunden in Christus!
Ihr / Euer Gerald Flade